Texte

Collagierte Welten

Zu Petra Ellerts plastischen Arbeiten aus Papier
Stephan von Wiese

 

Petra Ellert hat in ihrem Werk der letzten zwanzig Jahre das „Prinzip Collage“ auf immer wieder neue Weise erschlossen, sie hat dessen gestalterisches wie inhaltliches Repertoire gegenüber den künstlerischen Vorgängern dadurch erweitert: Collage steht in der Moderne als Ausdrucksmittel auf einer Ebene mit den Gattungen Malerei, Skulptur, Zeichnung, Environment. Alle diese bildnerischen Techniken lassen sich auf erfindungsreiche Weise miteinander vereinen, mischen, konfrontieren, und eben durch einen solchen ständigen Prozeß des Kombinierens hebt sich Petra Ellerts Werk hervor. Dabei bleibt das Prinzip Collage stets die strukturierende Grund- und Basismethode. In der hergebrachten Tradition sind Collagen geklebte Materialbilder, bei Ellert sind Form und Inhalt der Werke darüber hinaus durch collagierendes Denken und Handeln konstituiert.

 

Damit bleibt das Collagieren ein für Erfindungen und Erprobungen offenes Feld, anders als es Herta Wescher 1968 in ihrem Standardwerk „Die Geschichte der Collage“ noch angenommen hat. Wescher nämlich sah die Ausdrucksmöglichkeiten dieser Technik an ein Ende gekommen und schloß deshalb ihr Buch resümierend: „Die Stilgeschichte der Collage ist unter dem Aspekt einer ideengeschichtlichen Ausweitung ihrer unmittelbaren Ausdruckssprache seit der Pop Art abgeschlossen. Das Formenrepertoire, das sie im Wandel eines halben Jahrhunderts aus dem Experimentierfeld der Stile erobert hat, ist zum Instrument geworden, auf das die Kunst heute so selbstverständlich zurückgreift wie auf die traditionellen Methoden der Malerei.“

 

Betrachten wir die Werkentwicklung bei Ellert in den letzten zwanzig Jahren, so fällt zunächst ins Auge, daß hier generell das Papier wie eine Modelliermasse behandelt wird. Anders als etwa als bei den epochalen Papiers collés von Matisse, die bekanntlich zügig mit der Schere geschnitten wurden, reißt Ellert das Papiermaterial im collagierenden Prozeß stets mit der Hand, handelt auf diese Weise wie eine Bildhauerin: das Reißen des Papiers in kleine fetzenhafte Stücke ist modellierendes Zeichnen, der persönliche künstlerische Zugriff hinterlässt seine vitalen Spuren. Ursprünglich verwendete Ellert Wellpappe als Basismaterial wie bei den „Figuren in Bewegung“ von 1986. Die einzelnen gerollten, auf den Bildgrund getackerten Wellpappestücke signalisierten in ihrer gerissenen Röhrenform die Assoziation von Gliedmaßen, bewegten Körperfragmenten, Figuren schienen wie auseinandergesprengt: Ein ganzer Zirkel von gerissenen papierenen Pferdefiguren wurde 1997 im Rund des Treppenhauses des Düsseldorfer Polizeipräsidiums in Trab gesetzt. Vorangegangen war die Bodeninstallation aus gerissenen braunpapierenen Tänzerfiguren für den Kunstverein Siegen „Über Träume und Spaziergänge“. Die Papierarbeiten auf Holz „13 Personen“, 1990 und „Zwei Schwestern“, 1991, brachten als neue Elemente Farbe und Relief ins montierte Bild. Zugleich wurden nun kunsthistorische Vorbilder – hier: ein Gemälde des Manierismus – in die Bildsprache der Moderne übersetzt, formal analysiert, inhaltlich revitalisiert.

 

Die umfassende Serie der zehn „Komponistenportraits“ von 1999 war als Rauminstallation während des Kulturstadtprojektes Weimar 99 ein Beitrag zur Ausstellung „Entartete Musik“ und brachte als weiteres Moment den Prozeß des Fotokopierens von historischen Fotovorlagen in den Collage-Vorgang. Anders als beim Werk von Gerhard Richter wurden solche vorgefundenen Fotos nicht in Malerei übersetzt, sondern die figürlichen Fotovorlagen wiederum in einen collagierenden Arbeitsvorgang gestellt, wurden in Stücke gerissen, mehrfach kopiert, auf Holz montiert, auf einen grüntonigen Fond gesetzt. Auf diese Weise traten die historischen Komponistenbilder – von Eisler bis zu Weill mit Lenya – in den realen Raum, die Fotovorlage gewann als Kunstwerk „im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ (W.Benjamin) somit dreidimensionale Präsenz. Die Bildfolge imaginierte durch das moderne fotomechanische Verfahren zugleich die traditionssprengende Kompositionsweise der dargestellten Musikpioniere, wurde zum bildhaften Konzert. Aus den Komponistenportraits entwickelte sich 2003 das Bühnenbild für die Inszenierung der Kurt-Weill-Oper „Der Protagonist“ in Dessau, wobei nun bei der Aufführung in einem Kirchenraum – wie noch mehrfach in der folgenden Zeit – auch auf das Mittel der Projektion zurückgegriffen wurde, das Collagebild erfuhr so eine weitere Erweiterung, nämlich seine Entmaterialisierung. Im Sinne des Gedankens des Gesamtkunstwerks übernahm Petra Ellert bei der Operninszenierung auch die Gestaltung der Maske und der Kostüme.

Es mag diese Welt der Bühne gewesen sein, die Petra Ellert zu ihren überzeichneten Collagereliefs aus Knast- und aus Liebesbriefen geführt hat. Bei den Liebesbriefen war der zufällige Fund eines ganzen Kartons mit Liebesepisteln der Auslöser. Ellert hat diese Briefe zu kleinen autonomen Szenen arrangiert, hat sie zerknüllt, gefaltet, gerissen, mit Japantusche bezeichnet, teilweise mit Blattsilber bestückt oder mit Lippenstift getönt. Es entstanden daraus Dutzende von Papierreliefs wie „I love you“, „Darling“, „Schneewittchen“. Manche Brieffragmente sind gerollt, gleichsam versiegelt, andere als Fond fragmenthaft ausgebreitet, zwischen Bild und Text entspann sich ein imaginärer Dialog, den die Phantasie des Betrachters weiterführen mag.

In neuesten Reliefs und Papierskulpturen wurden solche figürlichen Szenen durch Strahlen der scheinwerferhaften LED-Technik noch einmal erweitert, erhalten damit neben den Tusche- auch Lichtzeichnungen, eine kleine lichtbestrahlte Guckkastenbühne scheint sich zu öffnen. Daneben wurden große freigestellte Papierskulpturen wie „Memoria“, 2000, eine Paraphrase auf die frühe Pietà von Michelangelos, und Skulpturen, bei denen die gerissenen Papierfetzen einen modellierten Gipskern kaschieren, weitergeführt: Die Skulptur eines laufendes Hundes erhielt beispielsweise ein federleichtes Papierfell. Der Büste von Josephine Baker wurde eine papierene Haut verliehen, ein Kranz aquarellierter Papierbananen umgibt sie. Solche papierhüllenhaften Szenen leben auch durch eine pointierte Prise der Ironie: Sie kommen nicht schwergewichtig daher, sondern sind imaginäre Aphorismen, kommentierende Nachschöpfungen zu Kunst und Kosmos aus leichtem Material.

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Anmerkungen zu den Komponistenportraits von Klaus Flemming

 

DEN BEGRIFF „PORTRAIT“ DEFINIERT DAS „WÖRTERBUCH DER KUNST“ ALS „DIE DARSTELLUNG EINES BESTIMMTEN MENSCHEN … SO, DASS SIE IHM ÄHNLICH IST, D.H. SEINE INDIVIDUALITÄT ANSCHAULICH VERGEGENWÄRTIGT UND HINTER SEINER KÖRPERLICHEN ERSCHEINUNG SEINE SEELISCHE ERSCHEINUNG SICHTBAR MACHT.“

 

Unter einer solchen allgemeinen Prämisse betrachtet dürften die ANNÄHERND LEBENSGROSSEN KOMPONISTENPORTRAITS, die die Bildhauerin Petra Ellert für die Ausstellung „Entartete Musik“, 1938 – Weimar und die Ambivalenz entwickelt hat, zuallererst einmal vom Betrachter auf sensibel erfaßte Wesenhaftigkeit der dargestellten Persönlichkeit befragt werden. Zumal im Kontext einer weitgehend auf Dokumentationsmaterial fußenden historischen Ausstellung, die das namensgebende Vorläuferprojekt von 1938 kommentierend rekonstruiert, geraten solche Portraits allzu leicht in den Sog des lIIustrativ-Dokumentarischen. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit hatte man eine solche bloß anschauliche Dienstbarkeit freilich einfacher und preiswerter haben können, womit die Frage nach der sinnstiftenden Funktion der Ellertschen Bildnisinterpretationen für dieses Ausstellungsprojekt aufgeworfen ist.

Nach ersten Anfängen eines Bildnisspezialistentums im16. Jahrhundert hatte diese Bildgattung sich spätestens in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts zur Hochform entwickelt, um sich dann im 18. in vielfältig unterschiedene
Sonderformen auszudifferenzieren. So entstanden z. B. Standes- und Berufsportraits, die durch entsprechende attributive Beigaben die Dargestellten „standesgemäß“ charakterisierten und Lesarten zur Entschlüsselung an die Hand gaben. Mit dem Beginn der „neueren“ Moderne zur letzten Jahrhundertwende traten diese erzählerischen Elemente allerdings wieder ganz zurück und gaben stärker psychologisierenden Darstellungsformen Raum oder überließen das Feld der künstlerisch ambitionierten Fotografie.

Auch für Petra Ellert waren Fotos der darzustellenden Komponisten Ausgangspunkt für die bildnerischen Umsetzungen. Die erstaunlich schwierige Quellenlage (immerhin beträgt der historische Abstand nur wenige Jahrzehnte) lieferte nur wenige bildverwertbare Anhaltspunkte in Form schlechter Reproduktionen. Aber dieses Manko spiegelt ja zugleich in lapidarer Eindringlichkeit Folgeerscheinungen der Verfemungsaktion und trifft mithin den Kern des künstlerischen Ansatzes. Denn schon die fotografisch fixierten Bildnisauffassungen, die ja Abbildungsmodelle weiterschreiben, die in den Jahrhunderten zuvor von der Malerei entwickelt wurden, vermitteln bereits im ersten Überblick den Eindruck von Hinfälligkeit, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit. Diese geradezu sinnliche Präsenz von Geschichtlichkeit, festgemacht am Zeitgeistkolorit von Outfit, Habitus und Attitude der Portraitierten, ist zwar jedem Foto vergangener Zeiten zu eigen, aber diese Komponistenportraits atmen einen Geist der Gefährdetheit und Ausgeliefertheit, der aufmerken läßt oder sollte das Wissen um den Kontext von Verfolgung und Vernichtung die Vorstellungskraft beflügeln oder die Künstlerauswahl schon eine gewisse Gestimmtheit präjudizieren?

Daß Petra Ellert sich künstlerisch auf diese Herausforderung eingelassen hat …
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Über das Werk von Petra Ellert
von Klaus Flemming

 

Das zentrale Thema im Werk von Petra Ellert war von Anbeginn an der Mensch, genauer gesagt: der bereits in Bildformen reflektierte Mensch. Sehr häufig reagiert Ellert direkt auf bestimmte, aus Kulturgeschichte und Medienwelt koloptierte Formen, die durchaus auch Klischeecharakter haben, unreflektiert als Standarts vereinnahmt werden oder gar den Status von allgemeinverbindlichen Topoi haben. Diesen Gestalten eignet so etwas wie Aura, Würde, Status, Pose, Habitus, sie sind mit Insignien oder Symbolen versehen und/oder vermitteln körpersprachlich Anspruch, Herkommen oder Wirkabsicht. Sie stehen für Macht, Eros, Machismo, Mutterliebe, Aufopferung, Durchsetzungsvermögen und desgleichen mehr; ihr Nimbus scheint ungebrochen.

Diese Bildtopoi von Persönlichkeiten, die durchaus als ambivalent rezipiert werden können, stellt Petra Ellert in neue Wahrnehmungskontexte. Sie bedient sich dabei des Kunstgriffs der Fragmentarisierung in doppelter Hinsicht. Einmal, indem sie die Figur aus dem angestammten Bildszenario herauslöst und in einen neuen Zusammenhang stellt, zum anderen durch direkte Attacken und Veränderungen des Ausgangsbildes.
Die bis zu lebensgroßen Figuren werden selbst dann mit einer Tendenz zu einer dreidimensionalen Wirkweise ausgelegt, wenn sie größtenteils als plane Wandstücke konzipiert sind: Material- und Dingapplikationen vermitteln ganz konkret eine physische und physiologische Nähe zum Betrachter und zu dem Realraum. Und gelegentlich sind die Figurationen auch zu environmentalen Szenarien gefügt, die man umschreiten kann. Gerne werden die Elemente der konkreten Ausstellungssituation normen- und interpretationsunterstreichend einbezogen; solcherart entstehen ungemein sensible Spannungsgefüge, die die verwendeten Bildklischees aufbrechen und ihnen neue Deutungsmöglichkeiten eröffnen.

Die Fragmentarisierung in der Detailstruktur vermittelt ein sehr eindringliches Bildprogramm von der Fragilität menschlicher Existenz, von Gefährdungen und Selbstzweifeln, Anwürfen und In-Frage-Stellungen. Im Gegenzug künden diese Bildformen aber auch von der faszinierenden Vitalität des Lebens, vom Aufbegehren und Widerstehen, von der Tragfähigkeit der Utopien und der Resistenzfähigkeit der Visionen. Sie sind Metaphern für den Dualismus, der sich seit frühgeschichtlichen Zeiten an Bildformen aus dem Spannungsgefüge von Liebe und Tod, den beiden großen Antogonisten, festmachen läßt.

Petra Ellerts Bildformen, die sich oft in der andeutenden Geste genügen, lassen reichlich Freiraum für die assoziative Ergänzung seitens des Betrachters. Solcherart stiften sie Identifikationen und weisen dem Individuum die Möglichkeit zu, sich im Archetypischen wiederzufinden.

„Weisse Magie“, Dr. Paul Bäcker, Gordes 2015

 

Man sitzt, steht oder liegt, wie auch immer, vor einem weißen Blatt Papier. Man betrachtet es. Man fühlt sich von ihm wie magisch angezogen. Man möchte es füllen, womit auch immer. Papier, sagt man sich, ist ja geduldig. Also versucht man Geduld zu haben, den Horror Vacui zu bekämpfen, die Furcht vor der Leere. Denn wer kennt sie nicht, die Angst vor dem leeren Blatt. Vor überhaupt jeder Leere. Der Leere vor sich, der Leere in sich. Ein Kampf beginnt. Eine nicht unübliche Interaktion in der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Material.

 

Und dann die Frage im Fall von Papier: ob die wohl noch funktioniert, diese Auseinandersetzung? Ist heutzutage ein weißes Blatt immer noch das ideale Etwas zur Kreation? Was tun? Punkt, Komma, Strich und fertig ist das Mondgesicht? Kritzeleien, wie in der Schule unter der Bank beim Spiel Schiffe-Ver-senken? Farbe drauf klatschen, ein Kessel Buntes? Grundieren, Pigmente anreiben? Ein Spagat wagen zwischen „Lowbrow“ und „Media is art“? Schöngeistiges Wolkengeschiebe oder „the feet back on the ground“? Wie nur sein eigenes Museum der Fantasie organisieren, ohne in Routine zu verfallen? Routine, der größte Feind des Lebendigen, fertige Urteile, „kenn ich schon“, „weiß ich schon“, der Tod also. Die Welt muss einem immer wieder fremd werden, erst dann kippt sie um. Handke nennt das die Erschaffung von „Ursprungsbildern“…

 

Petra Ellert hat sie nun mit diesem Material erschaffen, ihre Ursprungsbilder; hat, indem sie Papier plastisch macht, ihre Angst vor der Leere überwunden, hat ihr ganz persönlich kreatives Etwas gefunden, hat wie eine durch das Material schweifende freie Radikale ihren Werkstoff, weißes Papier, total neu erfunden: bläht es auf, macht Schlitze, Risse, Löcher, zerpflückt, zerknüllt, zerreißt es, weicht es auf, erhärtet es, klebt es zusammen mit Fotos, Zeichnungen, Kladden, stellt es unter Glaskolben, gibt ihm neue Strukturen, führt dieses flache, zweidimensionale Material über in eine dritte Dimension, indem sie, man könnte fast sagen, dessen Gedanken heraus- und ihre hineinschneidet. Ein Entstellungsprozess also. Aber durch diesen Prozess zur neuen Kenntlichkeit entstellt, zur Wirklichkeit, zur Wiedererkennung. Durch ihre radikale Behandlung des Urstoffs aller Kultur, dem Papyrus, bekommt dieser in ihren plastischen Arbeiten aus Papier eine ungewohnte, innere Kraft, einen scharfen, manchmal sogar kabarettistischen Biss, ja, eine abgründige Magie. Und einen neuen Reichtum. Denn schaut man sich ihre Werke genau an, vor allem die, die wie autistisch unter Glasglocken stehen, ihre dreidimensionalen Porträts mit Hüten und vorgestülpten Augen, ihre Verschnitte von Fotos großer Künstler, die aus ihren Rahmen herauszutreten scheinen, dann erkennt man, dass Petra Ellert mit einem von ihr elaborierten Blatt Papier nicht nur des Betrachters Erkenntnis fordert, sondern sie auch fördert, ihm hilft, seinen Sinn für Wirklichkeit zu schärfen. Indem sie die „weiße Magie“ dieses Materials erkannt hat, macht sie uns zu Mitwissern dieser Magie und schlägt uns alle in ihren Bann.
Dabei ist sie direkt, rasch und schnell. Ihre Arbeiten haben nichts elitäres, sie wirken spontan, sie bleiben figurativ, sie erzählen Geschichten, sie haben ein Bühnenbild, Kostüm und Maske, sie spielen mit Raum und Zeit, in ihrer Direktheit rufen sie Emotionen und Komik hervor, aber auch Trauer um Vergangenes. Denn der tiefe Reichtum, den Petra Ellert ihren Werken zu geben vermag, ist der tiefste Reichtum von Kunst überhaupt, dass sie ständig mit dem Gedanken an den Tod und an die Unsterblichkeit spielt. Ihre „Plastischen Papierarbeiten“ sind vorweggenommene Paradise, herrliche Utopien, aber auch dunkle, ungewisse Ängste, zu denen wir Mensch fähig sind. Ob sie nun zutreffen oder nicht.

 

Bildhauerei in Deutschland im 20. Jahrhundert
Auszug aus „Bildhauerei in Deutschland im 20. Jahrhundert“, Hans Joachim Albrecht, 2017

 

Starre Konventionen mit vergänglichen Materialien zu unterwandern, ist auch ein ernsthaftes Ziel fragiler Gebilde aus flexiblem und leichtem Papier. Eben diesem Werkstoff verfällt Petra Ellert  (1949), die als ausgebildete Goldschmiedin genau weiß, was das für sie nach langem Umgang mit edelsten Metallen bedeutet. Reiche anatomische Kenntnisse bringt sie aus der Bildhauerklasse in Florenz mit, aber die eigentlich neue gestalterische Perspektive eröffnet ihr das konzentrierte, freihändige Arbeiten mit Papier. Sie lernet schnell, mit sicheren Händen aus größeren und großen Bögen einander ergänzende oder ähnliches Konturen zu reißen, um aus den nie ganz scharf formatierten Fetzen oder Stücken Figurcollagen zu schaffen. Dass die frisch montierten Gestalten zwiespältig zwischen verblassenden, oder verblichenen und noch vertretbaren Ansichten und Inhalten flattern oder schwanken, macht sie „interessant“.

 

Eine anspruchsvolle Imagination verwirklicht Ellert im Jahr 2000, als sie die jugendliche Pietà von Michelangelo aus ihrer bruchsicheren Glashaube im Petersdom ideell entwendet, als Motiv für ihre mit Tod betitelte Installation. Sozusagen das Kernvolumen der berühmten Marmorskulptur durchdringend, reißt Sie in großen Zügen zeichnend eine zentrale Ansicht auf. Nach der fertigen Projektionszeichnung druckt sie 16 Kopien aus und montiert diese auf 16 Stühle, die in einer elliptischen Kurve einen Schalenraum bilden, also eine Arena. Wie ein umlaufender Paravent schirmen die glatten Stuhllehnen diesen Innenraum nach aussen ab. Letztlich bergend wirken die identisch umrissenen Maria-Frauen, die sich bis zum dichten Schulterschluss annähern und am Boden über die Wellenstürze ihrer Gewandsäume verquicken. So eng geschlossen verharrt die Gruppe dieser gestaltgleichen Figuren, gescharrt um eine Bare in ihrer Mitte, auf der aufgeschichtet 16 Papierkopien vom Leichnam Christi liegen – wie Abziehbilder, eins nach dem anderen dem Schoß jener Mutter entrissen. Wo sich die schmalen streifen für die Arme und Beine des toten Jesus vereinzelt aus dem Papierstapel hinauswinden, fallen sie büschelartig auseinander. Demgegenüber vermögen die größeren Schablonenstücke in der Leibesmitte auch körperliche Empfindungen zu wecken, indem sie sich zusammen aufwölben.

 

Ein ständig modifiziertes Einarbeiten fotografischer Vorlagen kennzeichnet raum-plastisches Arbeiten in den verflossenen Jahrzehnten. Petra Ellert nutzt es in einer sie kennzeichnenden Art für ihre Collagen. Ausgewählte Partien reißt sie aus Fotos oder Drucksachen heraus und interpretiert figürliche Motive dadurch neu, dass sie die projektiven ebenen Abbildungen in dreidimensional geschichtete, durchlässige Bildordnungen überführt. Sind es in Liebesbriefe VI von 2001, bleibt zu fragen, zwei Tänzerinnen oder ist es eine einzige, die parallel versetzt ihre Figur verdoppelt? Anscheinend durchstoßen zwei Oberkörper eine mehrschichtige Wand, berühren aber vereint zu einem vierhändigen Flügenwesen sachte den Boden. In größere Montagen integriert Ellert zunehmend LED-Lichtquellen, wirkungsvoll beim schimmernden, schillernden Flasher in Light. Diese Standfigur eines rätselhaften jüngeren Mannes tritt zwar erst 2005 auf, stellt jedoch in einem gläsernen Kasten völlig ungeschützt zur Schau, was uns schon lange vor der Jahrhundertwende beunruhigt. Wir begegnen dem frontal dastehenden Flasher in Light in einer unsäglichen Lage. Der Rückwand seines Kastens entwinden sich dünne, offen verlegte Kabel, die in seinen abgeflachten, schwarzbesprenkelten papier-bleichen Korpus eindringen. Als hinderlich fesselnde Stränge leiten den elektrischen Strom zu einem Set von Lampen, die im Inneren unter der gestückelten Mantel-Jacke aufscheinen und ein unnatürliches Eigenlicht verbreiten. Steckt dieser eindeutig fixierte Mensch in einer Art Zwangsjacke, einer Isolierkammer? Sicher nicht von ungefähr drängt sich die Vorstellung einer am Tropf hängenden Person auf, eines süchtigen Mannes, der sich trotzig an seinem Glimmstängel festhält.

 

Auf Fotografien aus den Werkstätten und Ateliers von Auguste Rodin sind Gipsgüsse von Körperteilen dokumentiert, die vielfach als Muster als Probierstücke von Gliedmaßen und Gesichtern lebender Modellen abgenommen sind. Die Nahsicht auf menschliche Körper wie auch die Beschränkung auf einzelne Glieder erhöht ihre „Beredsamkeit“ (Gottlieb Leinz) und lässt freiere Verknüpfungen und damit auch noch mehrere Assoziationen zu. Deswegen gehört die Torso-Thematik, die schier unerschöpfliche Arbeit mit Fragmenten und Details der menschlichen Figur, selbstverständlich auch in die Geschichte deutscher Bildhauerei.